Schlechtes Gewissen beim Aufschieben? Völlig unberechtigt – Psychologen erklären den wahren Grund

Warum Aufschieberitis ein Zeichen deiner Kreativität sein kann – und warum du dich deshalb nicht schlecht fühlen solltest

Kennst du das? Der Bericht liegt seit Tagen auf dem Schreibtisch, die Steuererklärung schiebt sich wie ein Schatten über dich, und statt anzufangen, sortierst du zum dritten Mal das Gewürzregal oder vertiefst dich in TikTok. Willkommen im Club der Prokrastinierer!

Doch bevor du dich selbst als undiszipliniert abstempelst, lohnt ein zweiter Blick: Deine Aufschieberitis könnte tatsächlich Ausdruck deiner Kreativität sein. Was sich oberflächlich wie ein Mangel an Motivation anfühlt, ist aus psychologischer Sicht mitunter eine produktive Phase – dein Gehirn nutzt sie, um komplexe Probleme im Hintergrund zu verarbeiten.

Warum kreative Köpfe anders mit Aufgaben umgehen

Die Forschung von Dr. Jihae Shin (University of Wisconsin-Madison) und Dr. Adam Grant (Wharton School) zeigt: Menschen, die Aufgaben moderat aufschieben, entwickeln bei kreativen Herausforderungen oft originellere Ideen als jene, die sofort loslegen oder bis zur letzten Minute warten.

Der Schlüssel liegt in der sogenannten Inkubationsphase. Das bedeutet: Während dein Bewusstsein vermeintlich abschaltet oder sich anderen Dingen widmet, arbeitet dein Gehirn weiter – sortiert, verknüpft, entwickelt im Hintergrund neue Perspektiven auf das Problem.

Was passiert im Kopf beim scheinbaren Leerlauf?

Die Neurowissenschaft kennt dafür das „Default Mode Network“ – ein Netzwerk im Gehirn, das aktiv wird, wenn wir tagträumen, reflektieren oder bewusst nichts tun. Es unterstützt unter anderem:

  • Kreatives Denken: spontane Ideen und Geistesblitze
  • Problemlösen: Herstellung unkonventioneller Verbindungen
  • Zukunftsplanung: gedankliches Probehandeln
  • Selbstreflexion: innere Sortierung von Gedanken und Emotionen

Nicht jede Prokrastination ist gleich – kreative Spielarten

Psychologen unterscheiden verschiedene Muster von Aufschieben. Einige davon können dem kreativen Prozess zuträglich sein, wenn sie bewusst oder intuitiv genutzt werden. Drei Beispiele:

Der „Perfektionist-Prokrastinierer“

Du willst nicht „irgendwas“ machen – sondern etwas durchdachtes, hochwertiges. Statt vorschnell loszulegen, gibst du deinem Gehirn Zeit, Ideen reifen zu lassen. Was wie Zaudern wirkt, kann sich am Ende als kreative Stärke entpuppen.

Der „Input-Sammler“

Du klickst dich durch Fachartikel, schaust Interviews, liest Meinungen – scheinbar ziellos. Doch dieser Input bildet den Nährboden deines Outputs. Kreative brauchen oft Impulse von außen, bevor sie selbst etwas Eigenes schaffen können.

Der „Spätzünder unter Druck“

Manche erleben unter Zeitdruck einen regelrechten Energieschub. Dabei entstehen nicht zwingend die kreativsten Lösungen, wohl aber Effizienz und Fokus. Studien zeigen: Die Qualität innovativer Ideen leidet unter Druck meist eher, aber viele empfinden gerade dann erhöhte Produktivität.

Was die Wissenschaft wirklich über Prokrastination weiß

Die Arbeit von Shin & Grant (2017) belegt: Moderate Prokrastinierer – also Menschen, die Aufgaben gezielt etwas aufschieben – schneiden bei kreativen Denkaufgaben besser ab. Ihr Gehirn nutzt die Zwischenzeit zum „divergenten Denken“ – der Fähigkeit, neue und ungewöhnliche Lösungswege zu erschließen.

Entscheidend ist das Maß: Zu frühes Handeln lässt wenig Raum für neue Ideen, zu langes Warten kann zu Stress, Hektik und mittelmäßigen Ergebnissen führen. Die Forschenden sprechen von einer „Goldilocks-Zone“: nicht zu viel, nicht zu wenig – eben genau richtig.

Viele Menschen machen außerdem subjektiv die Erfahrung, dass gerade beim Aufschieben kreative Impulse entstehen. Doch: Eine generelle Verbesserung von Noten oder Leistungen durch Prokrastination ist wissenschaftlich nicht belegt.

So kannst du deine kreative Aufschieberitis gezielt nutzen

1. Die Methode der strukturierten Prokrastination

Der Philosoph John Perry schlägt vor: Stell dir eine To-do-Liste mit einer übergeordnet wichtigen Aufgabe an die Spitze. Du wirst dann geneigt sein, andere sinnvolle Dinge zu erledigen – einfach, um die Hauptaufgabe zu vermeiden. So entsteht paradoxerweise Produktivität durch das bewusste Ausweichen.

2. Inkubationsphasen bewusst einplanen

Verteile deine kreative Arbeit in Abschnitten – so gibst du deinem Gehirn Zeit, tiefer zu denken. Eine einfache Strategie:

  • Tag 1: Aufgabe anreißen, Gedanken notieren – dann ruhen lassen
  • Tag 2–4: Abstand gewinnen, andere Tätigkeiten machen
  • Tag 5: Mit frischer Sicht und neuen Ideen das Thema bearbeiten

3. Prokrastinations-Tagebuch führen

Beobachte dich eine Woche lang bewusst:

  • Was hast du getan, statt deine eigentliche Aufgabe anzugehen?
  • Gab es dabei kreative Impulse oder Perspektivwechsel?
  • War dein Endergebnis dadurch besser, origineller, durchdachter?

Vielleicht erkennst du Muster, wie du dein Aufschieben produktiv gestalten kannst.

Wann Aufschieberitis zum Problem wird

So spannend die kreative Seite der Prokrastination auch ist – es gibt klare Warnzeichen:

  • Du verpasst regelmäßig wichtige Deadlines
  • Du leidest unter permanentem Stress durch Zeitdruck
  • Du hast Schwierigkeiten, überhaupt anzufangen
  • Dein Verhalten beeinträchtigt andere oder dein Team

In solchen Fällen handelt es sich nicht um kreative Inkubation, sondern möglicherweise um ein dysfunktionales Vermeidungsverhalten. Hier kann professionelle Unterstützung hilfreich sein.

Aufschieben als unbewusste Selbstregulation?

Manche Forschungen zeigen, dass kurzfristiges Verschieben auch der Stressreduktion dienen kann. Wer sich überfordert fühlt, nutzt Aufschieben manchmal unbewusst zur emotionalen Entlastung. Doch aus kurzfristigem Wohlfühlen kann langfristiger Druck werden.

Frage dich beim nächsten Aufschieben: „Was brauche ich gerade wirklich?“ Manchmal ist es schlicht eine kurze Pause oder Abstand – und nicht Faulheit.

Was wir aus der Aufschieberitis lernen können

Wenn du das nächste Mal zögerst, eine Aufgabe anzupacken, hinterfrage dich nicht automatisch. Vielleicht braucht dein kreativer Geist gerade Anlaufzeit, um sein volles Potenzial auszuschöpfen.

Prokrastination muss kein Gegner sein – sie kann auch ein Signal für dein individuelles Arbeitsrhythmus sein. Der Trick ist, sie bewusst und reflektiert zu nutzen, statt von ihr kontrolliert zu werden.

Mit der richtigen Balance wird aus dem angeblichen Defizit vielleicht sogar dein größter Vorteil. Denn manchmal ist genau jener kleine Umweg der kreativste Weg zum Ziel.

Welcher Prokrastinationstyp beschreibt dich am besten?
Perfektionist mit Anspruch
Recherchierer auf Inputjagd
Spätzünder mit Adrenalinkick
Der stille Ideensammler
Chaot mit Kreativpotenzial

Schreibe einen Kommentar