Warum junge Menschen Angst vor Telefonaten haben – und wie du sie überwinden kannst
Kennst du das? Das Telefon klingelt, und obwohl du weißt, dass es vielleicht nur deine Oma ist, die fragt, ob du zum Sonntagsessen kommst, fühlt es sich an, als ob du im Scheinwerferlicht eines Panzers stehst. Noch schlimmer: Du musst selbst jemanden anrufen, etwa beim Arzt einen Termin machen. Drei Tage schiebst du das lieber auf. Hotline bei der Krankenkasse kontaktieren? Da verbringst du stattdessen zwei Stunden mit dem Durchstöbern des FAQ-Bereichs, obwohl du genau weißt, dass dort keine Antwort auf deine Frage zu finden ist.
Fühlst du dich ertappt? Willkommen im Club der Telefonvermeider! Du bist nicht allein. Laut einer Studie der britischen Kommunikationsbehörde Ofcom aus dem Jahr 2022 nutzen nur 15 % der 18- bis 34-Jährigen das Telefon als bevorzugtes Kommunikationsmittel. Bei den über 55-Jährigen sind es 51 %.
Die digitale Generation und ihr analoges Problem
Warum ist das so? Schließlich sind wir mit Handys aufgewachsen. Wir können gleichzeitig Netflix schauen, auf Instagram scrollen und mit Freunden auf WhatsApp schreiben, aber ein Telefonat bringt uns aus dem Konzept?
Erklärt wird dieses Phänomen von Psychologen wie Dr. Larry Rosen als Folge der sogenannten „digitalen Kommunikationsverschiebung“. Digitale Kommunikation ist asynchron – wir haben Zeit, unsere Worte sorgfältig zu wählen, sie zu korrigieren oder komplett zu löschen, bevor wir auf „Senden“ tippen. Ein Telefonat dagegen findet in Echtzeit statt. Keine Pausen, kein Rückspulen, keine Löschfunktion. Genau das macht es so herausfordernd.
Was passiert im Gehirn bei Telefonangst?
Die Angst vor dem Telefonieren ist keine Einbildung – sie hat wissenschaftliche Erklärungsmodelle. Fachleute sprechen von einer Form der sozialen Angststörung, auch bekannt unter dem Begriff „Telephone Phobia“ oder „Telephonophobie“.
Bei einem persönlichen Gespräch hat unser Gehirn Zugang zu vielen nonverbalen Reizen:
- Gesichtsausdrücke und Mimik
- Körpersprache und Gestik
- Tonfall und Sprachmelodie
- Visuelle Hinweise
- Räumliche Kontextinformationen
Am Telefon hingegen fehlen viele dieser Signale. Dr. Sherry Turkle, Forscherin am MIT, hat herausgefunden, dass unser Gehirn in solchen Situationen versucht, die fehlenden Informationen zu rekonstruieren – ein kognitiver Kraftakt, der Stress und Unsicherheit verstärkt.
Der Perfektionismus-Faktor
Ein weiterer Punkt: Kommunikationsperfektionismus. Durch soziale Medien sind viele junge Menschen darauf konditioniert, nur die „beste Version“ ihrer selbst zu zeigen – perfekte Posts, witzige Reels, sorgfältig formulierte Nachrichten. Telefonate bieten keine Gelegenheit zur Retusche. Ein „äh“, eine Denkpause oder eine peinliche Stille reichen aus, um Unbehagen auszulösen. Deshalb meiden viele das direkte Gespräch am Telefon.
Warum Männer besonders betroffen sind
Untersuchungen zeigen, dass junge Männer häufiger Kommunikationsstress empfinden, insbesondere in spontanen Gesprächen – der Art, die beim Telefonieren gefragt ist. Eine Studie der Kölner Hochschule für Medien hat festgestellt, dass sich Männer am Telefon häufiger unwohl fühlen als Frauen. Ein möglicher Grund: Gesellschaftliche Rollenerwartungen. Wer stark und souverän wirken will, empfindet jedes Zögern oder Stolpern als Kontrollverlust.
Die Corona-Verstärkung
Ein unterschätztes Phänomen: Die Pandemie hat unsere Kommunikationsgewohnheiten verändert. Untersuchungen des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit Mannheim zeigen, dass soziale Ängste unter jungen Erwachsenen während der Lockdowns um etwa 25 % zugenommen haben. Auch das Telefonieren zählt dazu. Zwar haben wir mehr Video-Calls geführt, doch spontane Telefonate wurden seltener – und damit ungewohnter und bedrohlicher.
Wie du deine Telefonangst überwinden kannst
Die gute Nachricht: Du bist dieser Angst nicht hilflos ausgeliefert. Mit den richtigen Methoden kannst du Schritt für Schritt lernen, souverän zu telefonieren. Hier sind sechs erprobte Strategien, die dir dabei helfen:
1. Die Exposition-Methode
Diese Methode basiert auf „gradueller Exposition“ – bewährt bei allen Arten von Angst. Konfrontiere dich langsam und kontrolliert mit der gefürchteten Situation.
- Starte mit einfachen Anrufen, wie einer Bestellung in der Pizzeria
- Steigere zu Erkundigungen bei Hotlines oder Kinokassen
- Übe mit kurzen Gesprächen mit Bekannten
- Trau dich schließlich an komplexere Telefonate heran
Kleiner Tipp: Lieber fünf kurze Anrufe in der Woche als ein großer. Regelmäßiges Üben bringt Sicherheit.
2. Die Vorbereitung-Strategie
Du magst es durchdacht? Perfekt – das lässt sich nutzen! Überleg dir vor dem Anruf:
- Was willst du sagen?
- Was brauchst du vom Gegenüber?
- Welche Rückfragen könnten kommen?
- Was willst du vermeiden?
Schreib dir Stichpunkte auf, aber vermeide vollständige Sätze. Klingt sonst zu auswendig gelernt und bringt dich aus dem Konzept.
3. Die Körpersprache-Tricks
Was viele nicht wissen: Auch bei Telefonaten spielt Körpersprache eine Rolle – zumindest für dich selbst. Sie beeinflusst, wie deine Stimme klingt und wie du dich fühlst.
- Steh beim Telefonieren: Das gibt dir mehr Raum zum Atmen und klingt souveräner
- Lächle während du sprichst: Man hört ein Lächeln – wirklich!
- Bewege deine Hände: Das aktiviert dein Sprachzentrum besser
- Sieh dich im Spiegel an, während du sprichst: Das gibt dir Orientierung und Sicherheit
4. Die Entspannungs-Technik
Dein Nervensystem spielt eine Schlüsselrolle beim Umgang mit Stress. Eine gezielte Atemübung hilft dir, deinen Parasympathikus zu aktivieren – den Teil des Nervensystems, der für Entspannung und emotionale Balance sorgt.
So geht’s:
- Atme vier Sekunden lang ein
- Halte den Atem für vier Sekunden
- Atme sechs Sekunden lang aus
- Wiederhole das fünfmal
Diese Methode ist wissenschaftlich untersucht – sie reduziert zuverlässig Unruhe und Anspannung.
5. Die Realitäts-Check-Methode
Stell dir vor dem Anruf die Frage: Was ist das Schlimmste, das passieren kann? Meist lautet die Antwort: „Es ist unangenehm“ oder „Ich finde nicht die richtigen Worte.“ Und dann? Nichts. Das Gespräch ist vorbei – und die Welt dreht sich weiter. Niemand bewertet dich so hart wie du dich selbst. Viele sind froh, wenn du dich kurz, freundlich und klar ausdrückst.
6. Die Timing-Strategie
Wähle für Telefonate Tageszeiten, an denen du dich wohlfühlst und konzentriert bist – etwa zwischen 9 und 11 Uhr vormittags. Meide Anrufe, wenn du müde, hungrig oder gestresst bist. Dein Energielevel beeinflusst dein Selbstvertrauen merklich.
Die Vorteile des Telefonierens wiederentdecken
Wenn du deine Hemmung überwindest, merkst du, wie viele Vorteile das Telefonieren hat:
Es spart Zeit: Ein kurzes Gespräch klärt mehr als zehn E-Mails.
Es ist persönlich: Die Stimme transportiert Emotionen, die in Texten verloren gehen.
Es wirkt kompetent: Wer am Telefon souverän ist, gilt im Berufsleben als durchsetzungsstark und effektiv. Studien belegen diesen Zusammenhang zwischen direkter Kommunikation und beruflichem Erfolg.
Wann du dir professionelle Hilfe holen solltest
In manchen Fällen steckt hinter der Telefonangst eine ernstzunehmende soziale Angststörung. Wenn du das Gefühl hast, dass dich diese Angst im Alltag stark einschränkt, kann es sinnvoll sein, professionelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen.
Such dir Hilfe, wenn:
- die Angst dich beruflich oder privat ernsthaft blockiert
- du wichtige Dinge aus Angst vor dem Telefon vermeidest
- sich körperliche Symptome wie Panik oder Schweißanfälle zeigen
- die Angst über das Telefonieren hinausgeht und andere Lebensbereiche betrifft
Psychotherapeutische Hilfe ist keine Schwäche, sondern ein mutiger Schritt zur Selbstfürsorge.
Du kannst das!
Telefonangst ist ein weit verbreitetes Phänomen unserer Zeit – und du bist damit nicht allein. Entscheidend ist: Sie ist überwindbar. Mit den richtigen Werkzeugen, ein wenig Übung und einer Portion Geduld kannst du Schritt für Schritt entspannter telefonieren.
Und vielleicht wirst du feststellen, dass echte Gespräche – auch ohne Emoji oder GIF – etwas ganz Besonderes sind. Denn kein Algorithmus der Welt kann den Klang menschlicher Nähe ersetzen.
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